Feeds:
Beiträge
Kommentare

Posts Tagged ‘Slow Food’

Es ist Sonntag, 06.45 Uhr. Ich habe es geschafft, um Viertel nach sechs aufzustehen, obwohl ich erst spät eingeschlafen war. Ohne Frühstück, das Buffet gibt es im Hotel sonntags erst ab acht Uhr, mache ich mich auf den Weg. Im Ort sind schon einige Cafes geöffnet, aber leer.  Bin ich der erste oder der letzte, der losgeht? Ich beschließe, erst in Azofra, dem nächsten Ort zu frühstücken.

Es regnet nicht, aber es ist bewölkt und kühl, wieder ein idealer Wandertag. Auf den ersten Kilometern begegne ich niemandem außer einem Spaziergänger mit Hund, der schon zurückkehrt. Der Weg führt durch Weinberge, die Landschaft ist offen, der Regen vom Vortag hat das trockene Gras am Wegrand zum Duften gebracht. Ich beginne leise zu singen wie vor Jahren auf dem ersten Weg früh am Morgen in den langen flachen Strecken in Kastilien. Jetzt auch im Juli noch morgens allein auf weiter Flur zu sein, überrascht mich und freut mich. Morgens um diese Zeit bin ich noch nicht gespächig und genieße deshalb das Alleingehen.

Bald komme ich nach Azofra, wo ich letztes Mal vor vier Jahren bei Roland aus Köln in einer privaten Herberge übernachtet hatte. Es war ein schöner Abend gewesen. Roland hatte uns alle zu Wein, Jamon Serrano, dem luftgetrockneten spanischem Schinken und La Mancha – Käse eingeladen und von seinen vielen Jakobswegen erzählt. Irgendwann war er in diesem kleinen Ort hängengeblieben und hatte diese Herberge eröffnet.

Aber nun ist er nicht mehr da, wie ich ich schon vor der Etappe in einem anderen Blog gelesen hatte. An der Haustür steht noch „Roland- Köln“, aber im Restaurant gegenüber weiß auch die sehr freundliche Wirtin nicht, wo Roland jetzt ist. Im Ort ist inzwischen eine moderne städtische Herberge mit 60 Betten in Einzelzimmern entstanden, Roland dürfte auch schon deshalb nur noch wenige Gäste gehabt haben.     

Im Restaurant frühstücken gerade viele Wanderer. Unter ihnen sind nur wenige, die ich schon am Vortag getroffen hatte, wie der Italiener, der kaum noch gehen konnte.  Die meisten Gesichter sind mir neu. 

Mein Bus zum Zug in Burgos fährt in Santo Domingo um 11.45 ab. Ich muss mich sputen, um ihn noch zu erreichen. Das Frühstück hat länger gedauert hat als geplant. Ich gehe jetzt noch schneller als gewohnt, überhole eine Gruppe nach der anderen. Einige Wegstellen sind vom Schlamm bedeckt, aber meist ist der Grund trocken.

Ich hole eine Dreiergruppe ein, ein Pärchen und eine Frau, die vor den anderen beiden hergeht und dann mit mir weitergeht. Sie hat kurzgeschnittenes Haar, ist schon älter, aber sehr sportlich.  Jede Woche fährt sie in beim abendlichen Rollschuh-Lauf im Pulk in Barcelona mit. Demnächst will sie nach Berlin zum Marathon, weil dabei auch eine Variante für Skater  vorgesehen sei.

Sie ist seit Roncesvalles unterwegs, kennt viele der Leute, die wir überholen und entschuldigt sich bei ihnen, dass sie mit mir jetzt schneller geht, weil ich zum Bus will.

Irgendwann will sie es dann doch langsamer angehen und bleibt zurück. Es hat angefangen zu regnen. Der Regen ist leicht, ich will jetzt streckenweise laufen und ziehe nicht das Cape über.  Und dann lege ich auf den kurzen Strecken bergab jeweils Laufschritt ein, trotz des Rucksacks, der Wanderstöcke und Wanderstiefel.   

Und ich fühle mich stark und ein wenig glücklich, sechs Wochen vor dem sechzigsten Geburtstag jetzt hier im Regen laufen zu können. Im Juni hatte ich den Eindruck gehabt, dass der Grund für meine körperliche Schwäche im Vergleich zum Jakobsweg vier Jahre früher mein zunehmendes Alter war.  Jetzt weiß ich, es war nur das fehlende Training.    

Beim Laufen entdecke ich, wie viele Pilger heute unterwegs sind. Die Reihe vor mir ist ununterbrochen. Viele scheinen den Kopf zu schütteln über den Verrückten, der da im Regen an ihnen vorbei rennt.   Wenn man nach Santiago will, läuft man nicht, sondern man geht. Aber ich habe nur noch 30 Minuten bis zur Abfahrt des Busses, als Santo Domingo in der Ferne in Sicht kommt.   

Nun gehe ich wieder langsamer, als mich ein Wanderer im Regencape ganz freundlich begrüßt. Er trägt Sandalen an nackten Füßen, aber ein Regencape und spricht sehr gut Spanisch, fast ohne ausländischen Akzent.  Leo, so stellt er sich vor, kommt aus Moldawien und ist  Spanischlehrer  von Beruf. Ich habe zuerst einige Mühe, Moldawien auf der Landkarte zu situieren, weiß fast nichts über die Geschichte dieses Landes.   

Leo gibt mir einen Schnellkurs. In Moldawien spricht man Rumänisch – einen moldauischen Dialekt und Russisch. Moldawien hatte vor dem zweiten Weltkrieg zu Rumänien gehört, das in den dreißiger Jahren mit Hitlerdeutschland sympathisiert hatte.  Dann war Moldawien beim Hitler-Stalin-Pakt zugunsten der Sowjetunion abgetrennt worden.

Rumänien hatte aber dann im Krieg gegen die Sowjetunion auf der Seite Hitlers teilgenommen, das Gebiet von Moldawien zunächst wiederbekommen, dann aber am Ende des Krieges wieder an die Sowjetunion verloren.

Leos Vater war im Krieg rumänischer Offizier  gewesen und hatte dann ein Jahr in harter russischer Kriegsgefangenschaft verbracht. Ich denke an meinen Vater, der im Verlauf des Krieges nach Aufenthalten in vielen anderen Ländern, wie etwa Frankreich, auch in Ungarn und Rumänien deutscher Soldat in einem Panzer-Ersatzteil-Lager hinter der Front gewesen war, sage es aber nicht.

Wir sprechen über russische Lager, ich erzähle von den Beschreibungen eines russischen Gulags im Roman „Moths“ von Karl Manders, den ich gerade gelesen habe und der mich sehr bewegt hat.

Leo erzählt vom Schulunterricht in Geschichte während der sowjetischen Zeit, bei dem die Unabhängigkeit Moldawiens von Rumänien immer als positiv hingestellt wurde.

Nach dem Ende der Sowjetunion wurde Moldawien ein unabhängiger Staat, blieb aber wirtschaftlich von Russland abhängig. In der Sowjetzeit hatte es seinen Wein, das Haupexportgut, nach Russland exportiert und einen für die Sowjetunioon relativ hohen Lebensstandard. Nun gab es Bestrebungen, sich wieder Rumänien anzuschließen und darufhin waren die Grenzen für den Weinexport nach Russland geschlossen worden. 

Ein Teil des Landes mit einem hohen Anteil von Russen in der Bevölkerung will sich von Moldawien abspalten. Die Mehrheit der Gesamt-Bevölkerung träumt aber heute wohl von einem Beitritt zur EU, aber das bleibt in der Politik umstritten.

Leo spricht so gut Spanisch, weil er in Kuba gewesen ist. Seine Füße tun weh sagt er, denn er hatte keine Wanderschuhe mitgebracht, sondern nur Sportschuhe und Sandalen. In Santo Domingo will er neue Schuhe kaufen.

Am Ortseingang verzweigen sich unsere Wege und wir verabschieden uns, ich wünsche ihm Glück und guten Weg, auch für sein Land auf dem Weg nach Europa. 

Jetzt sind es nur noch zehn Minuten bis zur Abfahrtszeit und ich will direkt zur Haltestelle. Plötzlich fährt ein Bus der Firma, mit der ich hieher gekommen war, in Richtung Burgos an mir vobei und biegt dann links ab. Ich gerate in Panik. Sollte ich es doch nicht geschafft haben, trotz des Laufschritts? Ich frage eine Passantin noch mal nach dem Weg zur Haltestelle, bevor ich dem Bus im Laufen folge. „Nein, die Haltestelle ist geradeaus, nur drei Minuten von hier“, sagt sie mir und ich laufe wieder, diesmal  auf der Hauptstraße des Ortes, an den verdutzten Sonntagspaziergängern vorbei.  Dann sehe ich die Haltestelle, eine kleine Glashalle, wo ein halbes Dutzend Fahrgäste wartet. Der Bus ist noch nicht da, vielleicht trinkt der Fahrer noch irgendwo Kaffee, freue ich mich.

Ich lege meine durchnässte Kleidung ab, schiebe meine Wanderstöcke zusammen  und mustere die anderen Reisenden. Rechts zwei Männer um die vierzig Jahre, in Wanderkleidung der gediegeneren Art, die Spanisch sprechen. Sie  wandern auch nur an den Wochenenden. Der eine plant, irgendwann auch seine kleine Tochter auf dem Jakobsweg mitzunehmen.

Links sitzen ein junger Mann und ein älteres Paar auf zwei verschiedenen Bänken und unterhalten sich auf Englisch. Der Mann des Paares ist über sechzig, sie um die vierzig. Er hat eine wunderschöne blanke Glatze und erinnert mich an Norman Forster, den Architekten. Sie hat eine elegante Strubbelfrisur fürs Schwimmbad und trägt ein schönes geblümtes Sommerkleid. Sie haben kleine Tagesrucksäcke dabei, wohl Bustouristen. Ihr Akzent ist stark kalifornisch, seinen kann ich nicht lokalisieren. 

Der junge Mann auf der anderen Bank trägt dunkelgrüne Safarikleidung, eine Jagdweste, mehrere kleinere längliche Taschen außer seinem großen Rucksack und auch noch eine größere Kameratasche. Er erzählt von Pamplona, vom „Encierro“, dem morgendlichen Lauf der jungen Leute vor  den Stierkampfbullen, die während der „Fiesta de San Fermin“ jeden Tag um acht Uhr morgens durch die Straßen der Stadt laufen.

Und jetzt fällt mein Blick auf sein rundliches Gesicht, den braunrötlichen Vollbart. Ein Amerikaner oder Engländer, der wie Hemingway aussieht und dazu noch in Pamplona war, kaum zu glauben!

Dann kommt der Bus und wir steigen ein. Ich sitze einige Reihen hinter den dreien, höre aber ab und zu Gesprächsfetzen. „Hemingway“ erzählt ausgiebig von seinen früheren Militäreinsätzen in Ex-Jugoslawien und anderswo und dass er sich jetzt zu den „Special-Forces“ gemeldet habe. Und „Forster“ kommentiert, dann sei das Wandern auf dem Jakobsweg ja jetzt sicher eine gute körperliche Vorbereitung für den nächsten Einsatz für ihn gewesen. Er scheint viel vom Thema zu verstehen, vielleicht ist er ein Militär im Ruhestand.

Wir überholen immer wieder Wanderer auf dem Jakobsweg und „Hemingway“ spricht jetzt von der Parallelwelt zur profaneren Wirklichkeit der Auto- und Lastwagenfahrer, in der man als Jakobspilger lebt.

Auf der anderen Seite des Ganges neben mir sitzt ein junges Mädchen mit einem Hütchen und sehr sehr blauen Augen. Sie ist extrem dünn und hat ihre Beine unter sich auf dem Sitz. Sie scheint gerade 18 geworden zu sein.

Der Bus fährt durch viele Kurven. Ich entdecke erst jetzt, dass es Sicherheitsgurte gibt und mache meine Nachbarin auch daruf aufmerksam.

Eigentlich sollte man hier wie im Flugzeug direkt nach dem Einsteigen auf die Gurte hinweisen. Hier im Bus sind sie bei einem Unfall mit Überschlag oder bei einem eventuellen Zusammenstoß mit einem der Lastwagen, die uns hier entgegenkommen, sicher noch viel nützlicher als bei einem Flugzeugabsturz! Aber das könnte wohl die Busfahrgäste vergraulen…

Meine Nachbarin fragt mich auf Französisch, wie sie in Burgos einen Arzt für ihren schmerzenden Rücken finden kann. Sie hat es schon in Santo Domingo versucht, aber man hat ihr nur Schmerztabletten verschrieben. Sie meint, mit ein paar geschickten Handgriffen könne man ihren Rücken schnell wieder in Ordnung bringen. Vielleicht hat sie recht.

Ich empfehle ihr, in Burgos direkt in ein großes öffentliches Krankenhaus zu gehen, möglichst an einem Werktag, weil in Spanien dort die besten Fachärzte angestellt sind. Sie glaubt, nach zwei Tagen Pause dann wieder auf dem Jakobsweg weiter gehen zu können, nicht nur nach Santiago, sondern bis nach Finisterre, wie sie sagt. Ich mache ihr Mut.

Beim Aussteigen in Burgos biete ich ihr Hilfe beim Rucksacktragen an, aber sie lehnt ab, sie schaffe das schon allein, meint sie.

Ich gehe, aber dann denke ich, ich hätte es vielleicht mehrere Male sagen müssen und habe ein schlechtes Gewissen. Aber da bin ich schon auf dem Weg zum Bahnhof.

Am Bahnhof steht eine lange Schlange am einzigen  geöffneten Schalter. Dort werden auch Auslandsfahrkarten nach Frankreich verkauft und ein Kunde kann sich nicht für einen Reisetag und einen Zug mit Umsteigen entscheiden, ohne mehrfach Rücksprache mit seiner ganzen Familie zu halten. Der Beamte am zweiten Schalter darf anscheinend nur informieren, nicht verkaufen.

Nach 40 Minuten bin ich an der Reihe und sehe dann, dass ich noch 50 Minuten Zeit für ein Mittagessen habe, nachdem ich mich in der Toilette gewaschen habe und ein frisches Hemd und saubere Socken angezogen habe. Im Eilschritt gehe ich zur Stadtmitte, finde ein leckeres Menü in einer Art Restaurantzelt auf einem Platz an der Kathedrale.

Das Restaurant hat glücklicherweise sehr viel Personal, meist Immigranten. Man bedient mich ungeheuer flink. Das Menü ist nicht sehr billig, doch ausgezeichnet. Ich bekomme auch zum großen Bier ohne Aufpreis auch noch eine Anderhalbliter-Flasche Mineralwasser. Man weiß hier eben, was Pilger brauchen! Die Gerichte sind zwar „Slow Food“- es schmeckt köstlich – aber ich esse sehr schnell, zahle noch schneller und bin dann drei Minuten vor der Abfahrt wieder am Bahnhof.

Doch der Zug hat 10 Minuten Verspätung und ich kann in Ruhe einsteigen.

(Fortsetzung folgt)

Read Full Post »